Kia EV9 – Der weisse Riese
Klar den brandneuen Kia EV9 gibt’s auch in anderen Farben. Unser Testfahrzeug kommt aber tatsächlich in Snow White Pearl und ist ziemlich riesig. 5 Meter und ein Zentimeter lang und satte 1,98 Meter breit. Städtische Parklücken sind also eher nicht so sein Habitat, Parkhäuser noch weniger. Hier hilft der Radstand von 3 Metern auch nicht gerade. Doch wo setzt man den grossen Wagen ein und wie schlägt er sich im Alltag? Genau das finden wir bei unserem Test heraus.
Wie sein Name schon sagt, handelt es sich beim EV9 (EV für Electric Vehicle) um ein Elektroauto. Kia greift natürlich auf die konzerneigene Plattform zurück, die über ein 800 Volt-System verfügt, das sehr hohe Ladeleistungen ermöglicht. Praktisch, wenn man öfters weitere Fahrten unternimmt und auf zackige Schnellladezeiten angewiesen ist. Äusserlich schaut er dagegen eher gemütlich aus. Die Front ist zwar mächtig aber nicht aggressiv geraten. Die des GT-Line erkennt man an den senkrecht angeorneten kleinen LED-Würfeln in den Leuchteinheiten. Seitlich wird die enorme Länge sichtbar und die 21-Zoll-Räder schinden Eindruck. Hinten gibt’s eine grosse Klappe, die von futuristischen LED-Leuchten flankiert wird. Letztere sollen mit ihrem Design übrigens an Sternenkarten erinnern.
Also hinein in das Raumschiff und den Startknopf gedrückt. Startknopf? Ja, so etwas gibt es hier noch. Und zwar verbirgt sich dieser am unteren rechten Lenkstockhebel, wo auch die Fahrstufen gewählt werden. Ich wähle D und stromere los. Immerhin, die Übersicht ist gut. Grosse Fensterflächen, hohe Sitzposition, steil abfallende Seitenwände helfen mit, dass man auch ohne Kameras das Gefühl hätte, man überblicke die Situation. In der Praxis vertraue ich natürlich gerne auf die elektronischen Helferlein, vor allem beim Parkieren. Denn die schwarzen Felgen sind noch jungfräulich, was ihre Kontakte mit Randsteinen und anderen verunstaltenden Hindernissen angeht.
Kleinere Hindernisse dürfte unser Testwagen übrigens problemlos überfahren, schliesslich handelt es sich um die 4×4-Variante GT-Line.Kleinere Hindernisse dürfte unser Testwagen übrigens problemlos überfahren, schliesslich handelt es sich um die 4×4-Variante GT-Line. Der Akku fällt gleich gross aus, wie beim Standardmodell (99,8 kWh), Leistung gibt es durch den zweiten Motor aber deutlich mehr, nämlich 385 PS statt deren 203. Tatsächlich geht der EV9 richtig gut. So beschleunigt er von 0 auf 100 km/h in 5,3 Sekunden. Beachtlich für ein Leergewicht von 2,6 Tonnen. Der Übergang von Strom geben zur Rekuperation läuft über den One-Pedal-Mode sehr geschmeidig. Nur schade, dass man ihn nach jedem Start wieder mit zwei Zupfern am linken Lenkradpadel aktivieren muss. Gleiches gilt für den Sportmodus, der nicht nur das Ansprechverhalten verbessert, sondern auch die Sitzwangen etwas enger anlegt.
Überhaupt der Fahrersitz: Bedeckt von veganem „Leder“ verwöhnt er die Person vorne links mit Heizung, Kühlung und Massagefunktion. Doch damit nicht genug, bei einer Ladepause lassen sich die Vordersitze sogar in eine Relaxposition bringen, die sich durch eine elektrisch ausfahrende Unterschenkelstütze auszeichnet. Nice. Generell scheint Kia viel an die Passagiere gedacht zu haben. So viele USB-C-Steckdosen habe ich noch selten gesehen. Dazu kommen diverse Ablagefächer oder auch die für den Fond separat zu regelnde Klimazone. Man kann den EV9 auch als verkappten Van verstehen, wobei seine Optik eher auf SUV macht. Dazu passt, dass man mittels Knöpfen auf der mittleren Lenkradspeiche neben den typischen Fahrmodi (Standard, Eco, Sport) auch jene für spezielle Untergründe (Schnee, Schlamm) wählen kann.
So treten dann auch die fahrdynamischen Eigenschaften eher in den Hintergrund. Im Alltag funktioniert der EV9 einfach. Ausser natürlich, man ist auf Parkplatzsuche in der Innenstadt. Ebenfalls nicht ganz frei von Problemen ist die Bedienung. Unterhalb des grossen Touchscreens finden sich Direktwahltasten, die in die Cockpitoberfläche eingearbeitet sind. Abgesehen davon, dass man ihre Beschriftung je nach Lichtverhältnissen kaum lesen kann, bedient man sie meist aus Versehen, weil man die Touchhand genau dort ablegen möchte. Auch die Navigationssoftware Here bekleckert sich nicht mit Ruhm, wobei die meisten Nutzerinnen sowieso über Apple CarPlay oder Android Auto ihre GoogleMaps-Navigation nutzen düften.
Recht gut funktioniert dafür die Assistenzarmada, die unter anderem auch einen Spurwechselassistenten umfasst. Letzterer arbeitet tatsächlich ohne Zutun des Fahrers. Weil man im Prinzip trotzdem ständig die Hände am Lenkrad behalten muss, kann man sich aber schon die Sinnfrage stellen. Gleiches gilt für den Aufmerksamkeitsassistenen, der einen mit einem Kameraauge hinter dem Lenkrad beobachtet. Legt man zur Abwechslung die eine Hand oben auf das Volant, meint das System mangels Augenkontakt, man sei unaufmerksam. Das Kaffeetassensymbol und nerviges Gebimmel sollen das dann ändern. Doch weil im Koreaner generell immer mal etwas piept und tönt, fällt dies schon fast gar nicht mehr auf. Selbstredend ist das teilweise auch dem Gesetz geschuldet, das bei Tempolimitüberschreitungen akustische Signale verlangt.
Das Signal zum Aufladen ertönt bei einem Ladestand von 20%. Wer die Batterie wirklich leer fährt, kommt fast 450 Kilometer weit. Der Durchschnittsverbrauch im Test lag also bei 23 kWh. Für ein Auto mit 7 nutzbaren Plätzen und ordentlich Zupf doch ein sehr ansprechender Wert. Dazu kommt, dass der EV9 an den Schnellladestationen recht flink auf ein Ladetempo von 180 kW kommt und dieses auch hält.
Gehalten hat er im Test auch sein Versprechen, als Familienauto zu dienen. Zwei Erwachsene und drei kleine Kinder fanden im weissen Riesen mit seinen sieben Sitzen natürlich mehr denn genug Platz. Besonders beliebt waren übrigens die Plätze ganz hinten, wo jedoch vor allem die an der mittleren Kopfstütze der zweiten Reihe eingeklemmte Nintendo Spielkonsole für Erheiterung sorgte. Für eine wirkliche Reise mit Vollbesetzung wäre der Kofferraum dann natürlich zu knapp, denn dann bleiben nur noch 330 Liter. Vorne gibt’s nochmals 50 Liter, die man aber schnell mit Kabel und Co. gefüllt hat. Legt man aber nur schon einen der hintersten Sitze (natürlich elektrisch) flach, so dürfte dem grossen Trip nichts mehr im Wege stehen.
Ein ziemlicher Brocken legt sich der interessierten Kundschaft in den Weg. Der Kia EV9 GT-Line kostet mindestens 85’000 Franken. Der Testwagen kommt mit Metallicweiss, dem grossen Schiebedach, den Relaxation Seats und dem Winter Paket auf genau 90’650 Franken. Konkurrenz hat der EV9 bis zum Erscheinen der Langversion des VW ID.Buzz neben dem brandneuen Volvo EX90 praktisch keine. Natürlich hat Opel den Zafira Electric im Programm, dieser kommt aber ziemlich nutzfahrzeugmässig daher. Wer auf Allrad und etwas Power verzichten kann, findet den Kia EV9 mit 203 PS für 76’000 Franken in der Preisliste. Und auch diesen gibt es natürlich als weissen Riesen.