Achtsamkeit für den Weissen Stock

Interviews mit Fachpersonen für Orientierung und Mobilität

Der Schweizerische Blindenbund führt zum «Internationalen Tag des Weissen Stockes» am 15. Oktober 2023 in diversen Schweizer Regionen Sensibilisierungsaktionen durch. Mit diesen Aktionen möchte der Verein alles rund um den Weissen Stock ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stellen.

Das wachsende Gesellschaftsphänomen «Unachtsamkeit» in der Öffentlichkeit kann für sehbehinderte und blinde Menschen, die selbständig mit dem Weissen Stock unterwegs sind, mitunter gefährlich sein. Sowohl Betroffene als auch Fachpersonen sind sich einig: Aufklärung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit wird immer wichtiger, damit durch Wissen ein Verständnis für die besonderen Bedingungen von blinden und sehbehinderten Mitmenschen entsteht!

Es gibt hierzulande knapp 400’000 sehbehinderte und davon über 50’000 ganz blinde Menschen.

Es gibt hierzulande knapp 400’000 sehbehinderte und davon über 50’000 ganz blinde Menschen. Nur wenige haben einen Blindenführhund an der Seite, wenn sie selbständig unterwegs sind. Was aber viele in der Hand halten, um sicher und orientiert von einem Ort zum anderen zu gelangen, ist der Weisse Stock. Dieser Stock ist auch ein Erkennungsmerkmal und zeigt allen anderen, dass hier ein Mensch mit einer Seheinschränkung unterwegs ist, der möglicherweise nicht so schnell auf die Umwelt reagieren und ausweichen kann.

Nur, was nützt es, wenn die Passantinnen und Passanten dies nicht wissen oder zu beschäftigt sind und sie daher die Stockbesitzenden übersehen? Genau dann kann’s gefährlich werden und Unfälle gibt es öfter, als wir uns vorstellen. Dies bestätigen auch Orientierungs- und Mobilitätsfachpersonen des Schweizerischen Blindenbundes:

Bei Schulungen sind Stolperfallen, Schreckensmomente und Zusammenstösse immer wieder ein Thema. Gängige öffentliche Gefahrenquellen im Alltag von Menschen mit Seheinschränkungen sind:

  • Handynutzende vertieft in ihre Bildschirme, während sie z.B. zum Bus laufen
  • Achtlos abgestellte oder gar hingeworfene E-Trottis auf Gehwegen sowie kreuzende und viel zu schnelle Trottifahrende
  • Zu Fuss schlendernde Gruppen, vertieft in ihr Gespräch, von denen keiner beim Entgegenkommen ausweicht
  • Fahrzeuglenkerinnen und Lenker, welche Menschen ignorieren, die ihren Weissen Stock am Strassenrand in die Höhe halten, weil sie damit anzeigen, dass sie die Strasse überqueren wollen
Achtlos abgestellte oder gar hingeworfene E-Trottis auf Gehwegen sowie kreuzende und viel zu schnelle Trottifahrende sind für Menschen mit Seheinschränkung eine Gefahrenquelle.

Häufig wenden sich die Betroffenen nach einer brenzligen Situation an die O+M-Fachpersonen mit der Frage, wie sie hätten reagieren können. Proaktiv können Betroffene, Fachleute und Blindenorganisationen vor allem etwas tun: das Wissen in der Bevölkerung immer wieder auffrischen und somit versuchen, Bewusstsein und Aufmerksamkeit für sehbehinderte und blinde Mitmenschen zu schaffen. Und das fängt beim Basiswissen an:

Was genau ist ein Weisser Stock und was für Rechte erhalten Menschen, die mit einem solchen Stock unterwegs sind?

Der Weisse Stock ist ein wichtiges Hilfsmittel für blinde und sehbehinderte Personen. Er dient ihnen zur gefahrlosen Fortbewegung und Orientierung, zeigt den Mitmenschen aber auch, dass die Person eine Sehbeeinträchtigung hat. Der Weisse Stock bietet den Betroffenen einen rechtlichen Schutz. Er ist ein offizielles Verkehrsschutzzeichen mit Vortrittsrecht beim Überqueren der Strasse. Art. 6 Absatz 4 der Verkehrsregelverordnung VRV:

«Unbegleiteten Blinden ist der Vortritt stets zu gewähren, wenn sie durch Hochhalten des Weissen Stockes anzeigen, dass sie die Fahrbahn überqueren wollen.»

Wenn man also das Vortrittsrecht beim Überqueren einer Strasse eines Menschen mit Weissem Stock nicht beachtet, dann droht ein Strafverfahren mit Gerichtsverhandlung.

Unbegleiteten Blinden ist der Vortritt stets zu gewähren, wenn sie durch Hochhalten des Weissen Stockes anzeigen, dass sie die Fahrbahn überqueren wollen.

Wie reagiert die Bevölkerung auf den Weissen Stock?

Wenn der Weisse Stock wahrgenommen wird, dann sind die meisten Menschen interessiert, hilfsbereit, neugierig und fragen auch öfters, ob Unterstützung erwünscht ist. Leider sind jedoch viele so (mit sich selbst) beschäftigt, dass sie die Stöcke gar nicht bemerken.

Das Freihalten der weissen, taktil-visuellen Leitlinien, welche Personen mit Seheinschränkung zur selbständigen Orientierung dienen, wird auch immer wieder missachtet. Daher bitten wir Passantinnen und Passanten deren Nutzbarkeit immer zu ermöglichen.

In jedem ÖV gibt es ausgewiesene Sitzplätze für Menschen mit Beeinträchtigung. Es wäre sehr schön, wenn diese freiwillig oder auf Anfrage von Betroffenen mit Weissem Stock freigegeben werden.

Was Mitglieder des Schweizerischen Blindenbundes über Ihren Weissen Stock erzählen

Zum «Internationalen Tag des Weissen Stockes» am 15. Oktober erzählen Mitglieder der Regionalgruppen (RG) des Schweizerischen Blindenbundes über ihren Weissen Stock und das in der Gesellschaft wachsende «Hans-guck-in-die-Luft»-Phänomen.

Was bedeutet Ihnen Ihr Weisser Stock?

Janka R., RG Zürich: Mein Blindenstock gibt mir im Alltag mehr Sicherheit. Meistens läuft mein Stock zuerst in ein Hindernis, anstelle von mir und somit werde ich dadurch gewarnt. Auch vor Treppen und Abgründen warnt er mich, da er ja zuerst diese berührt.

Dieter L., RG Bern: Ich bin relativ schnell erblindet – vom ersten Mal zum Augenarzt gehen bis zum vollständigen Erblinden lagen gerade mal 15 Monate dazwischen, mit elf Operationen an beiden Augen. Somit hielt ich den Weissen Stock erstmals in meinen Händen, als ich bereits komplett erblindet war. Heute ist der Weisse Stock für mich das häufigste verwendete Hilfsmittel im Alltag, welches von morgens bis abends im Einsatz ist. Heutzutage sind alle Weissen Stöcke mit reflektierender Folie überzogen und somit senden sie indirekt Signale, insbesondere bei Nacht, an andere Verkehrsteilnehmende. Also eine effiziente Sicherheitseinrichtung sowohl für die Stockgänger als auch für die Verkehrsteilnehmenden.

Manuela D., RG Zürich: Er gibt mir gewisse Sicherheit in der Mobilität, der Fortbewegung im öffentlichen Raum und zeigt den anderen Passanten, dass ich eine Sehbehinderung habe, was mir persönlich das Nachfragen, wenn ich mal Hilfe bei der Suche z.B. nach der richtigen Bushaltestelle brauche, etwas erleichtert.

Wenn der Weisse Stock wahrgenommen wird, dann sind die meisten Menschen interessiert, hilfsbereit, neugierig und fragen auch öfters, ob Unterstützung erwünscht ist.

Wie reagiert die Bevölkerung auf den Weissen Stock?

Nicole S., RG Zürich: Es gibt verschiedene Reaktionen. Manche sind sehr hilfsbereit und fragen, ob ich Hilfe benötige. Andere starren mich mit grossen Augen an, als würde ich von einem anderen Stern kommen. Nochmals andere sind so mit ihrer Umwelt, Handys etc. beschäftigt, dass sie ihn übersehen.

Manuela D., RG Zürich: Mehrheitlich sind die Reaktionen gut, auch wird manchmal Hilfe angeboten. Leider gibt es aber auch immer wieder Menschen, die den Weissen Stock nicht wahrnehmen oder ihn ignorieren. Es scheint, immer mehr gehen als «Hans-guck-in-die-Luft» durchs Leben, oder noch treffender als «Hans-guck-aufs-Handy».

Janka R., RG Zürich: Da ich normalerweise mit Hund unterwegs bin, merke ich extrem, wenn ich mich dann mal alleine, nur mit dem Stock bewege, wie oft die Mitmenschen erst spät bemerken, dass jemand auf sie zukommt, der so auf die Schnelle nicht ausweichen kann! Gerade zu Stosszeiten ist es manchmal extrem schwierig, irgendwo durchzulaufen. Immer wieder wird mein Stock berührt oder ich muss selbst – falls ich es bemerke – noch ausweichen. Es sind wohl zu viele Eindrücke vorhanden für die Mitmenschen oder sie haben zu fest Ablenkung durch ihr Handy.

Am 15. Oktober 2023 ist «Internationalen Tag des Weissen Stockes».

Weiss die Bevölkerung genug über den Weissen Stock?

Michel C., RG Wallis: Manche Menschen wissen nicht, was der Weisse Stock für eine Rolle spielt. Man müsste ihnen schon als Kind beibringen, wie man mit Personen mit dem Weissen Stock umgeht.

Dieter L., RG Bern: Dieses Thema ist für mich wie ein Fass ohne Boden. Aus meiner Sicht sollte der Weisse Stock und dessen Bedeutung in jeder Fahrschule thematisiert und unbedingt auch ins Prüfungsmaterial aufgenommen werden.

Manuela D., RG Zürich: Automobilisten, Töfffahrer, Velofahrer etc. wissen bei Weitem nicht alle, dass eine Person am Strassenrand, die die Strasse überqueren will, wenn sie dies mit Hochheben des Weissen Stockes anzeigt, von Rechtswegen Vortritt hat.

Nicole S., RG Zürich: Wichtig finde ich, dass sich Verkehrsteilnehmende bewusster werden, dass Menschen mit Weissem Stock rechtlich Vortritt haben, auch wenn kein Fussgängerstreifen vorhanden ist. Zudem wäre es wichtig, dass wieder mehr Bewusstsein aufkommt, dass wir darauf angewiesen sind, dass Mitmenschen uns ausweichen und auch Hilfestellung anbieten.

Janka R., RG Zürich: Sicherlich muss immer wieder betont werden, dass die Leitlinien freizuhalten sind, denn diese sind vermehrt besetzt durch Autos oder Mitmenschen. Dass jemand mit Weissem Stock nicht gut sieht, ist wohl schon gut bei den Menschen verankert, doch die Welt ist wohl zu visuell, als dass man mehr auf dies achten würde. Mir fällt das wirklich auf – sogar bei den Kleinsten! Kaum einer geht zur Seite oder manchmal fast zu spät!

Nicole S., RG Zürich: „Wichtig finde ich, dass sich Verkehrsteilnehmende bewusster werden, dass Menschen mit Weissem Stock rechtlich Vortritt haben, auch wenn kein Fussgängerstreifen vorhanden ist.“

Grundsätzlich sind Menschen mit einem Weissen Stock in der Hand selbständig unterwegs, freuen sich aber natürlich auch über Unterstützungsangebote aufmerksamer Mitmenschen. Die gegenseitige Achtsamkeit gestaltet unser aller Leben interessanter, entspannter, freundlicher und gewinnt dadurch an Lebensqualität.