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Viele Sommer hatten die Tannenzapfen, Steine, die Pfanne und der Schal in einem lilafarbenen Karton mit der Aufschrift «Schneemann» verbracht. Und jedes Jahr beim ersten Schnee holte Daniel sie heraus, um einen Schneemann zu bauen. Sobald er fertig war, begrüsste er seinen alten Freund. Daniel erzählte von seinen Erlebnissen und Karl hörte gerne zu. Er konnte sich eine Welt ohne Schnee gar nicht vorstellen. «Wie sieht das denn aus?» Deshalb zeigte ihm Daniel Fotos vom Sommer. Karl wurde dann ganz still und bewunderte die Aufnahmen und die für ihn fremde Welt. Mit der Zeit wurden die Gespräche seltener und kürzer. Häufig war Daniel lange in der Schule oder er traf Freunde. Karl bemerkte das zwar, aber er sagte nichts. Er wusste, dass es irgendwann so kommen musste.
Dann kam das erste Jahr, in dem Daniel den lilafarbenen Karton nicht mehr aus dem Schrank holte.
Viele Jahre vergingen. Daniel war verliebt, er zog zu Hause aus, er studierte. Schliesslich fand er eine gute Arbeit und eine Frau, mit der er sein Leben verbringen wollte. Sie zogen in ein gemeinsames Haus und nach ein paar Jahren bekamen sie eine Tochter – Marie. Sie brachte das Leben des Paares ganz schön auf Trab und machte eine Menge Blödsinn. Ein kleiner braunhaariger Wirbelwind. Sie stellte Fragen und wollte immer alles ganz genau wissen. Sie gab sich nicht damit zufrieden, wenn die Antwort war: «Das verstehst du noch nicht.» Dann stand sie da, die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf schief gelegt und sagte trotzig «Dann musst du es eben besser erklären.»
Marie war meist zu Hause, wenn Daniel von der Arbeit zurück kam. Manchmal war sie aber auch bei Freundinnen spielen. So auch an diesem Tag, als Daniel in die Hofeinfahrt einbiegen wollte. Es war Winter, kurz vor Weihnachten. Es hatte schon mehrfach geschneit und Marie wollte schon oft einen Schneemann bauen. Daniel hatte aber immer eine Ausrede gefunden, es auf den nächsten Tag zu verschieben. «Ich habe so schlimme Rückenschmerzen», hatte er dann gesagt oder «Ich bin so geschafft von der Arbeit, lass uns am Wochenende einen Schneemann bauen.»
Doch jetzt stand er da. Der Schneemann. Regungslos, ein bisschen klein und ein bisschen schief.
Daniel war mulmig, er hatte den rot-weissen Schal und die Pfanne ohne Griff sofort erkannt. Er ging ins Haus und fragte seine Frau Sandra, ob sie Marie geholfen hätte. «Nein», sagte sie, «sie hat deinen lilafarbenen Karton in der Garage gefunden und dann den Schneemann selbst gebaut. Ich durfte nicht helfen.»
Daniel spürte wie einen Schlag in den Magen. Er musste sich kurz setzen, so ein schlechtes Gewissen hatte er. Er sagte Sandra, er wolle sich den Schneemann mal genauer ansehen und schlich hinaus. Daniel war unsicher und unentschlossen, was er sagen solle. So lange hatte er seinen Freund nicht gesprochen und nicht beachtet. Er ging zu Karl und flüsterte «Hallo Karl.»
Daniel bekam keine Antwort. Immer noch regungslos stand der Schneemann da. Daniel versuchte es noch einmal «Ich weiss gar nicht, was ich sagen soll. Erkennst du mich noch? Ich bins, Daniel.» «Daniel?», kam es verwundert aus dem Schneemann heraus. «Wirklich? Du siehst ja ganz anders aus!» Daniels Herz machte einen Satz. Sein Freund war nicht böse auf ihn. Noch nicht. Als er ihm erklärt hatte, dass viele Jahre vergangen waren und er nun Frau und Tochter habe, wurde Karl ganz ruhig. «Verstehe», sagte er, «Schade, dass du mich so lange nicht als Freund brauchtest.» Er machte eine Pause und Daniel rutschte das Herz tiefer. Karl dachte nach.
«Umso erfreulicher, dass mich deine Tochter wieder aufgeweckt hat! Darf sie mich kennen lernen?» «Oh ja, ich hole sie gleich ab», freute sich Daniel. Er rannte ins Haus und holte den Autoschlüssel, rannte wieder zurück zum Auto und fuhr los. Für Karl dauerte es eine Ewigkeit, bis sie wieder zurück waren. Er war unsicher, ob Marie ihn mochte oder vielleicht Angst bekam. Aber sie hatte ihn ja schliesslich gebaut!
«Ein lebendiger Schneemann?» rief Marie. «Wow, wie Olaf?» In einer Welt wie heute verwundert Kinder nicht mehr viel, dachte Daniel. «Ja, so wie Olaf», schmunzelte ihr Vater, «aber das ist unser Geheimnis!» «Alles klar.»
Als die beiden vor Karl standen, wusste keiner so recht, was er sagen sollte. Also grinste Karl und sagte zu Marie: «Im nächsten Jahr musst du mich grösser bauen, sonst schmilze ich so schnell.»
Und Marie antwortete: «Versprochen!»
Von: Annette Karmann