«Bimbo», «Fritzli» und Co. sind nicht nur Blindenstöcke
Immer wieder treffen wir auf Fussgängerinnen und Fussgänger, welche einen langen weissen Stock mit kugelförmiger Spitze pendelnd vor sich herbewegen. Automatisch denken wir an einen Blindenstock – aber Achtung! Nicht jeder dieser Stockbesitzenden ist ganz blind. Etwa 80% besitzen noch einen geringen Sehrest. Doch eines haben alle gemein: Sie benutzen den Weissen Stock, um sicher und autonom von einem Ort zum anderen zu gelangen.
Zum «Internationalen Tag des Weissen Stockes» erzählen sechs Mitglieder der Regionalgruppen (RG) des Schweizerischen Blindenbundes über ihren Weissen Stock und wie er ihnen hilft, selbständig als sehbehinderte oder blinde Person unterwegs zu sein.
Was genau ist ein Weisser Stock?
Nicole S., RG Zürich: Der Weisse Stock ermöglicht mir, selbstständig unterwegs zu sein. Damit kann ich meinen Weg und Hindernisse bis auf Bauchhöhe ertasten und Mitmenschen darauf aufmerksam machen, dass ich ein Mensch mit Sehbehinderung bin und ich darauf angewiesen bin, dass Mitmenschen mir ausweichen.
Dieter L., RG Bern: Ganz banal ausgedrückt: Der Weisse Stock kompensiert bei der Mobilität etc. mein fehlendes Augenlicht. Indirekt warnt er mich vor Hindernissen, gibt mir Sicherheit und zudem viele nützliche Informationen weiter.
Petra R., RG Wallis: Der Weisse Stock ist für mich meine Augen und ein verlängerter Arm. Er gibt mir Sicherheit und Freiheit, mich im Alltag fortzubewegen.
Haben Sie Ihrem Weissen Stock einen Namen gegeben?
Petra R., RG Wallis: Mein Stock hat einen Namen. Er heisst Fritzli. Fritzli gehört zu meinem Leben.
Dieter L., RG Bern: Ja, er heisst «Bimbo»! Jeder Mensch in meinem Umfeld, egal ob wichtig oder nicht, hat einen Namen. Somit ist es für mich eine Selbstverständlichkeit, dass ich «meinen Kollegen», der ganz unermüdlich mit mir durch Dick und Dünn geht und zudem, wenn nötig noch lebensrettende Informationen liefert, mit seinem Namen ansprechen kann.
Michel C., RG Wallis: Er heisst «Bastun». Das heisst in italienischem Dialekt «Stock». Der Weisse Stock ist ein Körperteil von mir – ein drittes Auge.
Wie schwierig war die Ausbildung mit dem Weissen Stock?
Nicole S., RG Zürich: Ich hatte bereits ab der 1. Klasse Stocktraining. Es dauerte wenige Wochen, bis ich ihn auf dem Schulgelände nutzen konnte und dann viele Trainings im öffentlichen Raum über die ganze Schulzeit, um kompetent unterwegs zu sein. Noch heute repetieren wir im Training Orientierung und Mobilität (O+M) an der Beratungsstelle des Schweizerischen Blindenbundes ab und an Stocktechnik.
Manuela D., RG Zürich: Wirklich schwierig war die Ausbildung nicht, da das Gehen mit dem Weissen Stock ja eine Hilfe in der Mobilität bedeutet. Ich war an etwa fünf Tagen mit dem Mobilitätslehrer unterwegs für jeweils so ca. zwei bis drei Stunden.
Janka R., RG Zürich: Ich weiss nicht mehr wie lange ich dafür benötigte. Was ich weiss ist, dass ich mich lange weigerte, da ich nicht dadurch erkannt werden wollte. Lieber lief ich irgendwo rein. Als es aber hiess, dass ich nur einen Blindenführhund erhalte, wenn ich zuerst ein halbes Jahr mit dem Blindenstock unterwegs bin, machte ich eine O+M-Schulung. Schnell merkte ich, wieviel mir dieser Stock helfen kann.
Was bedeutet Ihnen Ihr Weisser Stock?
Dieter L., RG Bern: Ich bin relativ schnell erblindet – vom ersten Mal zum Augenarzt gehen bis zum vollständigen Erblinden, lagen gerade mal fünfzehn Monate dazwischen mit elf Operationen an beiden Augen. Somit hielt ich den Weissen Stock erstmals in meinen Händen, als ich bereits komplett erblindet war. Heute ist der Weisse Stock für mich, wie vermutlich für viele andere blinde Menschen auch, das häufigste verwendete Hilfsmittel im Alltag, welches von morgens bis abends im Einsatz ist. Zudem schätze ich, dass der Weisse Stock zu den ältesten blindentechnischen Hilfsmitteln zählt. Dennoch wird er auch weiterhin eines der wichtigsten bleiben. Heutzutage sind alle Weissen Stöcke mit reflektierender Folie überzogen und somit senden sie indirekt Signale, insbesondere bei Nacht, an andere Verkehrsteilnehmende. Also eine effiziente Sicherheitseinrichtung sowohl für die Stockgänger als auch für die Verkehrsteilnehmenden.
Was gibt es für Gründe, warum eine sehbehinderte Person NICHT mit einem Weissen Stock unterwegs sein will?
Petra R., RG Wallis: Die Hemmungen, anderen Menschen zu signalisieren, dass man ein «Handycap» hat. Die Angst, von den Mitmenschen wegen der Seheinschränkung nicht akzeptiert zu werden.
Manuela D., RG Zürich: Sie will nicht als sehbehinderte Person sofort erkannt werden.
Dieter L., RG Bern: Weil diese irrtümlicherweise meint, dass sie den Weissen Stock nicht, oder noch nicht benötigt. In Wirklichkeit ist es «das Outen» mit dem Weissen Stock, was einen nicht zu unterschätzenden Verarbeitungsprozess bei vielen potenziellen Stockgängern hervorruft. Auch ich habe diesbezüglich meine Erfahrungen gemacht.
Wie reagiert die Bevölkerung auf den Weissen Stock?
Nicole S., RG Zürich: Es gibt verschiedene Reaktionen. Manche sind sehr hilfsbereit und fragen, ob ich Hilfe benötige. Andere starren mich mit grossen Augen an, als würde ich von einem anderen Stern kommen. Nochmals andere sind so mit ihrer Umwelt, Handys etc. beschäftigt, dass sie ihn übersehen.
Michel C., RG Wallis: Manche Menschen kommen zu dir und fragen, ob man irgendwie helfen kann. Manche machen den grossen Bogen um dich, sie wollen nichts davon wissen.
Janka R., RG Zürich: Da ich normalerweise mit Hund unterwegs bin, merke ich extrem, wenn ich mich dann mal alleine, nur mit dem Stock bewege, wie oft die Mitmenschen erst spät bemerken, dass jemand auf sie zukommt, der so auf die Schnelle nicht ausweichen kann! Gerade zu Stosszeiten ist es manchmal extrem schwierig irgendwo durchzulaufen. Immer wieder wird mein Stock berührt oder ich muss selbst – falls ich es bemerke – noch ausweichen. Es sind wohl zu viele Eindrücke vorhanden für die Mitmenschen oder sie haben zu fest Ablenkung durch ihr Handy.
Dieter L., RG Bern: Ganz unterschiedlich, jedoch mehrheitlich hilfsbereit, leider manchmal auch ein bisschen zu viel. Es gibt solche, die nichts davon wissen wollen oder sich nicht trauen zu fragen. Wiederum andere sind sehr interessiert und beginnen ein Gespräch.
Was muss in der Öffentlichkeit bezüglich des Weissen Stockes betont und immer wieder gezeigt werden?
Dieter L., RG Bern: Dieses Thema ist für mich wie ein Fass ohne Boden. Aus meiner Sicht sollte der Weisse Stock und dessen Bedeutung in jeder Fahrschule thematisiert und unbedingt auch ins Prüfungsmaterial aufgenommen werden.
Nicole S., RG Zürich: Wichtig finde ich, dass sich Verkehrsteilnehmende bewusster werden, dass Menschen mit Weissem Stock rechtlich Vortritt haben, auch wenn kein Fussgängerstreifen vorhanden ist. Zudem wäre es wichtig, dass wieder mehr Bewusstsein aufkommt, dass wir darauf angewiesen sind, dass Mitmenschen uns ausweichen und auch Hilfestellung anbieten.
Janka R., RG Zürich: Sicherlich, dass die Leitlinien frei sind, denn diese sind vermehrt besetzt durch Autos oder Mitmenschen. Dass jemand mit Weissem Stock nicht gut sieht, ist wohl schon gut bei den Menschen verankert, doch die Welt ist wohl zu visuell, als dass man mehr auf dies achten würde. Mir fällt das wirklich auf – sogar bei den Kleinsten! Kaum einer geht zur Seite oder manchmal fast zu spät!
5 Fakten zum Weissen Stock
1. Wer mit dem Weissen Stock unterwegs ist, ist nicht unbedingt blind
Umgangssprachlich ist er auch bekannt als «Blindenstock». Dies stimmt so aber nicht ganz: Denn ca. 80% der Stockbenutzer und -benutzerinnen haben noch einen kleinen Sehrest, sind also nicht vollkommen blind. Der Weisse Stock dient auch ihnen als offizielles Verkehrsschutzzeichen, ermöglicht das selbständige Fortbewegen und zeigt zugleich an, dass sie eine Sehbehinderung haben.
2. Der Weisse Stock hat immer Vortritt im Verkehr
Artikel 6 der schweizerischen Strassenverkehrsordnung sagt ausdrücklich: «Unbegleiteten Blinden ist der Vortritt stets zu gewähren, wenn sie durch Hochhalten des weissen Stockes anzeigen, dass sie die Fahrbahn überqueren wollen.» Nur so kommen Fussgängerinnen und Fussgänger mit reduzierter Sehkraft heute selbständig im immer gefährlicheren Strassenverkehr zurecht.
3. Jeder hat seinen Lieblingsstock
Eines haben sie gemeinsam: Sie sind alle weiss. Jedoch gibt es verschiedene Arten von Weissen Stöcken, je nach Mobilität, vorhandenem Sehvermögen, ob noch ein Blindenführhund mit dabei ist oder auch sonstigen Vorlieben der betroffenen Person. In Orientierungs- und Mobilitätsschulungen, z.B. beim Schweizerischen Blindenbund, werden die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Stockarten von Fachpersonen aufgezeigt und der Umgang in Gebäuden und im öffentlichen Raum gelernt und geschult.
4. Der Weisse Stock ist immer einen Schritt voraus.
Durch Pendelbewegung mit dem Langstock ist es dem Stockbesitzer oder der Stockbesitzerin möglich zu merken, ob der Weg frei ist, um gefahrlos ans Ziel zu kommen. Hilfreich dabei sind taktile Leitliniensysteme, die häufig in Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen zu sehen sind. Aber auch Trottoir-Randabschlüsse, Belagswechsel, Wasserrinnen, Pfosten und andere bauliche Elemente vermitteln Orientierung und weisen den Weg.
5. Der Weisse Stock nützt nur, wenn er auch gesehen wird
Heute sind viele Menschen in Eile, schauen auf ihr Handy, hören Musik und achten kaum auf entgegenkommende Mitmenschen. Sehbehinderte und blinde Fussgängerinnen und Fussgänger wünschen sich, gesehen zu werden. Sie sind darauf angewiesen, dass man sie mit ihrem Weissen Stock wahrnimmt, ihnen den Weg frei macht und sie gefahrlos passieren lässt. Der Weisse Stock ist auffällig genug – mit wachem Verstand und offenen Augen ist er nicht zu übersehen!