Die Adventszeit verspricht Besinnlichkeit – und liefert oft das Gegenteil: volle Kalender, grelle Dekoration, Dauerbeschallung. Doch leise wächst ein Bedürfnis nach Tiefe. Eine Spurensuche nach Momenten, die berühren – und nach einer stilleren Weihnacht.
von Ronnie Hürlimann
Der Nebel zieht über den See, das Licht einer einzelnen Laterne flackert auf der Oberfläche. Stille legt sich wie eine Decke über die Landschaft. Eine Frau steht still am Ufer, eingehüllt in einen Mantel. Kein Bildschirm, kein Zeitdruck – nur das leise Geräusch von Wasser, vielleicht ein Glockenton in der Ferne.
«Hier kann ich atmen», sagt sie später. Ihr Advent beginnt mit wenigen Minuten am selben Ort, jedes Jahr. Kein grosses Ritual, kein Aufwand – aber ein bewusster Moment. Und genau das scheint vielen zu fehlen.
Denn so sehr wir den Advent mit Kerzen und Kalendern verbinden, so oft verflüchtigt sich das Gefühl dahinter. Lichterketten blinken, Läden locken mit Rabatten, Streamingdienste liefern Weihnachtsfilme im Dauerlauf. Doch wann wurde zuletzt eine Kerze einfach nur angezündet – nicht als Dekoration, sondern als Zeichen für Ruhe?

Weniger ist wieder mehr
Rituale verändern sich. Früher war der Kirchenbesuch selbstverständlich, heute suchen viele nach individuellen Formen des Innehaltens: ein Spaziergang im ersten Schnee, das stille Backen eines Familienrezepts, eine Stunde bei Tee und Stille. Es geht nicht um Nostalgie, sondern um Gegenwart.
«Das Schöne an Ritualen ist: Sie brauchen keine Bühne», sagt eine Musiktherapeutin, die Klangräume im Advent gestaltet. Kein Programm, keine Performance – nur Töne, Licht, Raum. «Viele sagen danach, sie hätten sich selbst wieder gehört.»
Gerade in einer Zeit, in der vieles inszeniert wirkt, wächst die Sehnsucht nach dem Echten. Der Duft von Orangen, das Knirschen von Frost unter den Sohlen, das Flackern einer Kerze – das sind Sinneseindrücke, die bleiben.
Auch die Vorbereitung verändert sich: Wer bewusst einkauft, bewusst schenkt – vielleicht Zeit statt Dinge –, der macht nicht nur anderen, sondern auch sich selbst ein Geschenk. «Ich verschenke dieses Jahr eine Stunde im Wald», erzählt eine junge Frau. «Mit heissem Tee, Thermosflasche, gemeinsamem Schweigen.» Originell? Vielleicht. Echtheit statt Aufwand? Ganz bestimmt.

Was wirklich berührt
Fragt man Menschen nach ihren stärksten Weihnachtserinnerungen, erzählen sie selten von Geschenken. Sondern von Gesten. Vom gemeinsamen Singen, von der Grossmutter, die jeden Advent das gleiche Märchen vorlas. Vom Stern am Fenster, der jeden Abend heller schien. Vom stillen Staunen, als der erste Schnee fiel – und der Moment ganz der eigene war.
Diese Erinnerungen sind schlicht – und genau darin liegt ihre Kraft. «Weihnachten berührt, wenn es ehrlich ist», sagt ein Psychologe. «Nicht, wenn es perfekt ist.» Es muss nicht glänzen, es muss gelten.
Ein älterer Mann erzählt, wie er seit Jahren an Heiligabend allein einen Spaziergang macht. Kein Handy, kein Ziel. «Ich denke nach. Über das Jahr, über das Leben, über das, was zählt.» Keine Inszenierung – nur Einkehr.
Vielleicht ist es gerade das Unperfekte, das Menschliche, das diese Zeit wieder bedeutungsvoll macht. Eine kleine Tasse Tee bei Kerzenschein. Ein Lied ohne Noten. Ein Gespräch, das einfach fliesst. In solchen Momenten spürt man: Es geht nicht um mehr. Es geht um näher.

Die Stille als Geschenk
Die Landschaft hilft – ob man nun auf einen Hügel blickt oder durch eine Altstadtgasse geht. Aber entscheidend ist die innere Haltung. Advent kann mehr sein als Dekoration: ein Raum für Wahrnehmung, für Dankbarkeit, für das Wesentliche.
Vielleicht beginnt diese Haltung mit einem kleinen Licht. Mit einem Moment am Fenster. Mit einem Atemzug, der nicht gleich weiterhetzt. Stille ist kein Mangel – sie ist ein Geschenk. In ihr liegt Tiefe. Und in der Tiefe liegt oft das, wonach wir suchen: Verbindung.
Die Frau am See wendet sich langsam ab. In der Hand trägt sie ein Licht, sorgfältig geschützt. Vielleicht bringt sie es heim. Vielleicht stellt sie es auf den Fenstersims. Vielleicht lässt sie es einfach brennen – für einen stillen Moment, der bleibt.








